Publikation: 
radius 30
Ausgabe: 4/21

Verloren schön

Fotograf Winfried von Esmarch

erzählt seine Geschichte

 von

Hannover-Linden

 

 

Es war die Zeit der Ölkrise, Helmut Schmidt löste Willy Brandt als Kanzler ab und Deutschland hatte über eine Million Arbeitslose. In vielen Häusern wurde noch mit Kohle geheizt und die Toilette befand sich auf halber Treppe. In dieser Zeit begann der junge Fotograf Winfried von Esmarch, Linden zu fotografieren. Zahlreiche der eindrucksvollen Schwarz-Weiß Fotografien sind im Café K in der Egestorffstraße noch bis Juni ausgestellt. Zu ihnen hielt von Esmarch im mit über 60 Gästen vollbesetzten Café einen Bildervortrag. Dazu eingeladen hatte Manfred Wassmann von der Initiative Lebensraum Linden. Bevor von Esmarch mit seinem Vortrag startete, stimmte Ernst Barkhoff, langjähriger Stadtrat und Linden-Sanierer die Besucher mit ein paar Zahlen auf die Zeit der rußenden Schornsteine ein. „Es gab eine regelrechte Flucht aus Linden, viele junge Familien, aber auch alte Menschen aufgrund der Wohnverhältnisse weg, dafür gab seinen großen Zuzug von Ausländern. Viele Wohnungen stammten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, hatten keine Heizung und kein Bad“, umriss Barkhoff die Situation. „Linden war von der Stadtentwicklung abgehängt.“

Fotomotive wie aus Bitterfeld

Bevor Linden-Süd eines der bundesweit ersten Sanierungsgebiete wurde – unter reger Bürgerbeteiligung – boten sich dem jungen Winfried von Esmarch Fotomotive, die zum Teil an Städte wie Bitterfeld erinnerten, das allerdings noch in den 90ern so aussah – kaputte Fensterscheiben, abblätternde Farbe von teilweise kaputten Fassaden. Eine Dampflok heulte zum Küchengarten, sie transportierte Kohle. „Wenn man auf der Brücke stand, wurde man eingedampft und rußig“, erinnerte sich von Esmarch, der 1967 nach Linden kam und auch die beengten Wohnverhältnisse aus eigenem Erleben kennt. „Ich wohnte in der Limmerstraße 91. Die Speisekammer war zum Klo umgebaut worden. Das Besondere war die Badewanne, sie befand sich unter der Spüle. Wenn man baden wollte, musste man sie herausziehen.“

Die Fotografien ließen manchen Besucher nostalgisch werden. „Hach, ein alter Käfer, so einen fuhr ich auch“, war aus der zweiten Reihe von einem Gast zu hören. „Und guck mal, kaum Autos auf den Straßen“, antwortete eine weibliche Stimme. Besonders neben den Motiven aus einem Linden vor der Sanierung aber ist die Atmosphäre der Bilder. Viele von ihnen strahlen eine fast mystische Verlorenheit aus. „Ich war damals von der neuen amerikanischen Sachlichkeit inspiriert und hatte den Roman ‚Stille Tage in Clichy’ von Henry Miller gelesen“, bestätigte von Esmarch den Eindruck. „Am meisten beeinflusste mich Brassai mit seinen Nacht-Fotografien in Paris.“ Seine Nachtbilder von Linden zeigen das Nachtleben, wie es sich in den 70ern gestaltete. 

„Männer versoffen ihr Geld in der Kneipe“

Zwei Männer, verschwommen durch die lange Belichtungszeit, verlassen die Kneipe „Zum Holländer“, dem heutigen „Centrum“ am Lindener Marktplatz. „Das war damals so, die Männer versoffen das Geld in der Kneipe und die Frauen hüteten die Kinder“, kommentierte von Esmarch das Bild. Die Fotos sind auch zeitgeschichtliche Dokumente – der Kaugummi – und Zigarettenautomaten an verwitterten Hauswänden, das erste große Werbeplakat, das für Telefonate aus dem Urlaub wirbt oder die in ihrer eher minimalistischen Grafik schon wieder hochaktuellen Roth-Händle-Werbung im XXL-Format. Andere Bilder zeigen fast leere Straßenschluchten und enge Hinterhöfe, in denen Kinder spielen. „Ich werde auf meiner Webseite öfter auf die schöne alte Zeit angesprochen“, schmunzelte der Fotograf in der anschließenden regen Diskussion. „Dabei war die Limmerstraße laut und lärmig, die Häuser in einem zum Teil erbärmlichen Zustand und die Kinder hatten kaum Platz zum Spielen. Auch das Heizen mit Kohle war sehr beschwerlich und im Sommer war es in den Wohnungen unerträglich heiß, weil die Häuser nicht isoliert waren.“ Trotzdem hätten ihn die Fotos berührt. „Ich habe sie nach 40 Jahren wieder ausgegraben und digitalisiert. Veränderungen nimmt man ja nicht so wahr, weil sie langsam vonstatten gehen – nur aus der Rückschau werden sie sichtbar.“ Bei allen Veränderungen gibt es ein Motiv, dass über die Jahrzehnte gleich geblieben ist -  die alte Feuerwache. „Sie hat sich überhaupt nicht verändert“, staunte der Fotograf und zeigte zum Abschluss noch ein Bild vom jungen von Esmarch – mit wilder Mähne und einem kleinen revolutionären Funkeln in den Augen.